Ijime (虐め oder 苛め– Mobbing, Quälen, Schikanieren) ist in Japan leider kein seltenes Wort. Fast jeder der sich mit Japan beschäftigt stolpert früher oder später darüber, besonders, wenn man sich mit der Schulsituation auseinander setzt und auf Artikel über Schülerselbstmorde stößt. Ijime geht aber viel weiter und ist tiefer in der japanischen Kultur verwurzelt als man annehmen mag, daher möchten wir euch einen kleinen Überblick über die verschiedenen Formen geben.
Burakumin (部落民)
Das japanische Gesellschaftssystem basierte früher auf einer Einteilung in Klassen. Klassenlose geächtete nannte man Burakumin.
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Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie „unreine“ Berufe ausübten wie z.B. Totengräber oder Schlachter. Burakumin durften nicht mit den „normalen“ Menschen zusammenleben und siedelten daher in Ghettos etwas außerhalb der Dörfer und Städte in sogenannten Etamura (Eta – Überflüssiger Dreck; Mura – Dorf).
Der Ursprung der Burakumin ist nicht ganz geklärt, so stehen Forscher noch immer vor der Frage, ob sich der Gesellschaftsstatus durch den Beruf bestimmte, oder ob bestimmte Menschen in diesen Status (und somit auch bestimmte Berufe) gezwungen wurden. Erste Aufzeichnungen über zweiteres lassen sich in die Murochmachi Zeit (1336-1573) zurückverfolgen.
Mit der Edo Zeit wurde das gesellschaftliche Klassensystem dadurch erneuert, dass nun der Status nicht mehr nur durch den Beruf bestimmt wurde, sondern schon durch Geburt. Da Burakumin quasi klassenlos waren, blieb ihnen eine Hochzeit und somit ein Wechsel in höheren Klassen verwehrt.
Auch ihr Leben wurde als wertlos eingestuft, so durften sie Mitglieder der Klassengesellschaft nicht berühren und mussten sich unterwürfig zeigen.
Morde an Burakumin durch Samurai wurden nicht verfolgt oder bestraft.
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Auch in der heutigen Gesellschaft werden Burakumin noch diskriminiert. Um dies einzugrenzen, wurde das System des japanischen Familienregisters angepasst, so dass keine Rückschlüsse auf einen eventuellen Burakumin Hintergrund mehr ersichtlich sind.
Dadurch ist jedoch das System wieder auf das Berufsbezogene zurückgeschwappt und somit sehen sich Mitglieder einiger Berufsgruppen wieder dem gesellschaftlichen Ausschluss unter der Bezeichnung Burakumin ausgesetzt.
Hibakusha ((被爆者)
Als Hibakusha werden die Überlebenden der Atombombenabwürfe 1945 über Hiroshima und Nagasaki bezeichnet, dabei wird in mehrere Gruppen unterschieden:
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Menschen, die sich bei Abwurf der Bomben im Stadtinneren aufhielten; Menschen, die sich in den zwei folgenden Wochen innerhalb von 2km vom Einschlagort aufhielten; Menschen, die Atomstaub ausgesetzt waren; Ungeborene, deren Mütter in eine der vorgenannten Kategorien fallen.
Hibakusha und ihre Nachkommen wurden und werden auch heute noch diskriminiert.
Hauptsächlich ist dies auf den Fehlglauben zurückzuführen, dass die Strahlenkrankheit oder generell Nachfolgen der Strahlenaussetzung ansteckend oder übertragbar wären.
Deshalb wurden Hibakusha aus der Gesellschaft heraus in eine Randposition gedrängt und als minderwertig angesehen.
Obwohl mittlerweile viel Aufklärungsarbeit zu dem Thema stattfand und Hibakusha in Hiroshima und Nagasaki als lebende Zeitzeugen öffentlich von ihren Schicksalen berichten und angesehen sind, gibt es oft noch Probleme, wenn ihre Nachkommen versuchen ins japanische Arbeitsleben einzusteigen.
Die Änderungen des Familienregisters konnten hier nur bedingt Abhilfe schaffen, da weiterhin der Registrierungsort der Vorfahren angezeigt wird. So können die Arbeitgeber jederzeit Rückschlüsse darauf ziehen, ob der Bewerber Nachkomme von Hibakusha ist.
Zainichi (在日)
Die Beziehungen zwischen Japan und Korea waren nie wirklich gut und sehr geprägt von Krieg, Kolonien, Sklavenhandel und Unterdrückung.
In Japan lebende Koreaner wurden als Staatenlos angesehen, ihre Sprache als unerwünschter Dialekt verboten und viele wurden auch zu Namensänderungen gezwungen.
Einen besonderen Aufschwung erhielt die Diskriminierung von Koreanern nach dem 2. Weltkrieg.
Koreaner mussten nun Papiere mit sich führen, die auf Bedarf von anderen eingesehen werden konnten und Misshandlungen – sowohl physisch als auch psychisch- mehr oder minder legitimierten.
Mehr über Japans Umgang mit Koreanern könnt ihr in unserer neuen Reihe „Homogenes Japan? Ethnische Minderheiten in der japanischen Gesellschaft“ lesen.
Auch viele andere ethnische Minderheiten wie z.B. Ainu und Ryukyuan erfuhren und erfahren noch immer Ausgrenzung und Diskriminierung in Japan, dazu wird es demnächst noch detailliertere Artikel geben, da dieses Thema sehr umfangreich ist.
Wenden wir uns nun den Problemen mit Ijime im Alltag zu.
Mobbing an Schulen
Dies ist wohl die über die Landesgrenzen hinaus bekannteste Art von Mobbing in Japan. Jährlich verzeichnet das Land viele tragische Schülerselbstmorde, die auf Mobbing zurückgeführt werden können. Oft wird das Mobbing durch Schüler ausgeführt, die sich in Gruppen gegen das Opfer stellen und es sowohl psychisch als auch physisch versuchen zu zerstören.
Typische Handlungen sind z.B. Gerüchte, die über das Opfer verbreitet werden, anschwärzen bei Lehrern, verbale Misshandlung, Entwendung und Zerstörung von Eigentum des Opfers (z.B. Schulmaterialien), Schubsen, übergießen des Opfers mit Farbe oder streng riechenden Flüssigkeiten bis hin zu stärkerer körperlicher Misshandlung in Form von Schlägen, Tritten und Formen von Folter.
In einigen Fällen wurde nach den Selbstmorden bekannt, dass die Opfer zu „suicide practice“, also dem Üben von Selbstmord gezwungen wurden indem sie z.B. auf das Dach eines Hochhauses gebracht wurden und über die Absperrung klettern mussten oder dazu gezwungen wurden, sich zu ritzen. Auch „Probe-Beerdigungen“ soll es gegeben haben.
Die große Gemeinsamkeit bei fast allen Fällen ist, dass die japanische Gesellschaft das „Wahren des Gesichts“ verlangt. Dadurch, oder auch durch Desinteresse, ignorieren Lehrer oft die Anzeichen von Mobbing oder weigern sich einzugreifen. Eltern bekommen nur selten etwas von den Problemen ihres Kindes mit und selbst wenn, sind sie weitestgehend machtlos. Über die Probleme wird also so lange geschwiegen, bis sie sich von selbst erledigt haben. Durch Schulwechsel, Umzug oder im tragischsten Fall den Selbstmord des Opfers.
Auch Lehrer werden in japanischen Statistiken als Täter erwähnt. So ging im Dezember 2012 der Fall eines Sportlehrers durch die japanischen Medien, der einen Schüler so lange schlug, quälte und psychisch unter Druck setze, dass dieser sich erhängte.
Arbeitsgruppen und Studien wurden zum Thema Mobbing an Schulen eingerichtet und auch Statistiken erstellt, Maßnahmen gab es bislang aber kaum.
Power Harassment – Mobbing am Arbeitsplatz
Auch viele Arbeitnehmer haben in Japan mit Mobbing zu kämpfen. Enormer Druck begünstigt dies, denn die Vorgesetzten geben oft den Druck an ihre Untergebenen weiter. So wird von den Arbeitern unermüdlicher Einsatz verlangt, oft auch durch Arbeit am Wochenende, Überstunden und manchmal auch Schlafentzug. Frust wird in Form von Agressionsketten von den oberen Hirarchien nach unten abgelassen und so lässt sich auch erklären, wie es zu verbalen Attacken und auch körperlicher Züchtigung kommen kann.
Laut Studien des Ministry of Health, Labour and Welfare kann Mobbing am Arbeitsplatz in zwei grobe Kategorien eingeteilt werden:
Physische Misshandlung: z.B. Schläge mit Aktenmappen, ziehen an der Krawatte, spucken, ohrfeigen oder werfen von Objekten auf das Opfer bis hin zu Reduzierung der Raumtemperatur auf ca. 0°C (diese Aussagen basieren auf durch das Ministerium dokumentierten Fällen)
Psychische Misshandlung: z.B. Beschimpfungen („Du bist ein Idiot“, „Du bist Abschaum“, Du verdienst es nicht, hier zu sein“), Einmischung ins Privatleben und verbale Bloßstellung dieses (z.B. „Nur eine so hässliche Frau wie deine kann dich ertragen“), Einberufung von Meetings die nur dazu dienen, das Opfer bloßzustellen, Ausschluss von Arbeit und Aufforderung zur Kündigung, Anzügliche Berührungen oder Aussagen um das Opfer bloßzustellen, Ausschluss von Firmenfeiern, Nomikai oder Abschlussfeiern, absichtliches nicht weiterleiten von wichtigen Unterlagen, Verwehrung von Versetzungen und Bestrafung durch Verlegung des Arbeitsplatzes in Isolation (z.B. Abstellkammer).
Seit 2012 gibt es eine Arbeitsgruppe des Ministry of Health, Labour and Welfare, die sich mit Regeln zur Prävention des Mobbings beschäftigt und regelmäßig Empfehlungen ausgibt, allerdings sind die Firmen und ihre Mitarbeiter nicht an diese Epfehlungen gebunden und so wird Fehlverhalten auch oft nicht geahndet.
Wie oben schon erwähnt, gibt es in Japan noch viele andere Formen von Mobbing, die fast jeden betreffen können. Nicht nur ethnische Minderheiten und Schulkinder sind Opfer, sondern auch Opfer von Katastrophen, normale Arbeiter, Schwangere, bestimmte Berufsgruppen und viele mehr.
In den letzten Jahren entwickelten sich – auch auf internationalen Druck hin- Präventionsstellen, die langsam beginnen Vorschläge zur Besserung zu entwickeln und generell lässt sich beobachten, dass sich das Bewusstsein für solche Vorfälle immer mehr schärft und etwas Aufarbeitung (z.B. durch Manga, Anime, Filme und Dramen) stattfindet. Es bleibt also abzuwarten, wie sich die einzelnen Situationen weiter entwickeln werden.